Norme – oder werde genormt

Interview mit Urs Fischer, CEO der Schweizerische Normenvereinigung (SNV), über Normen im Allgemeinen und die Zusammenarbeit mit der SASFS.

Die SNV ist 100 Jahre alt geworden. Wie haben Sie dieses Jubiläum gefeiert?
Wir wollten am Jubiläum nicht nur Mitglieder, Partner, Kunden und Mitarbeitende teilhaben lassen, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit. So haben wir die Feierlichkeiten gleich in vier Events organisiert:

  • Mitgliederversammlung
    100 Jahre nach der Gründungssitzung der SNV am 2. Juli 1919 fand diese wieder am gleichen Ort in der Trafohalle in Baden statt. Die Gelegenheit zum Networking wurden sehr geschätzt.
  • Event für die Mitarbeitenden
    Fand in der Uhrenfabrik IWC in Neuhausen statt, verbunden mit einer Rheinfahrt bei schönstem Wetter.
  • Experten-Anlass
    Organisiert für die Experten, welche für die ­Erarbeitung der Normen zuständig sind. Hauptveranstaltungsort war das Technorama Winterthur. Von dort aus besuchten die Experten aufgeteilt in Gruppen verschiedene Partner­firmen der SNV. Zurück im Technorama tauschten sich die Experten über ihre Erlebnisse aus. Abgerundet wurde der Event durch zwei Referate.
  • Tag der offenen Tür
    Am 14. Oktober 2019 führten wir einen Tag der offenen Tür in unserem neuen Gebäude in ­Winterthur durch. Mit Hilfe eines Parcours stellten wir der interessierten Öffentlichkeit unsere Normenarbeit in verschiedenen Bereichen vor.

Es freut mich, dass es uns mit diesen Anlässen gelungen ist, die Arbeit der SNV unseren Partnern und der Öffentlichkeit noch näher zu bringen.


Was ist die Definition einer Norm?
Normen sind freiwillige, von Fachexperten erarbeitete Regeln für fast alle Gebiete im modernen Wirtschafts- und Alltagsleben. Im Umfeld der Normung kommen Experten aus unterschiedlichen Ländern und Unternehmen zusammen, um gemeinsam eine Norm zu erarbeiten. Die Experten agieren dabei nicht als Konkurrenten, sondern als Partner.
Grundsätzlich ist die Norm eine Empfehlung und ihre Anwendung freiwillig. Normen werden erst dann bindend, wenn sie Gegenstand von Verträgen sind. Normen begegnen uns täglich – meist völlig unbemerkt. Noch bevor wir morgens bei der Arbeit eintreffen, haben zahlreiche Normen unser Leben bereits sicherer und bequemer gemacht. Diese unsichtbaren Helfer sorgen für das reibungslose Zusammenspiel vielfältiger Produkte, Prozesse und Dienstleistungen und begleiten uns durch den Alltag.

«

IM NORMENGESCHÄFT IST EIN TRAGFÄHIGER KONSENS DANN ZUSTANDE GEKOMMEN, WENN AUCH EIN ZÄHNEKNIRSCHENDES KOPFNICKEN VORHANDEN IST.

»

Wie wird die Normungsarbeit im Finanzbereich ausgelöst und in welcher Form ist die SNV in den Normungsprozess involviert?
Ein Beispiel: eine beliebige Person in einem beliebigen Land hat eine Idee für eine neue Norm im Finanzbereich. Diese Idee wird der nationalen Normenorganisation zugeführt. Über die «International Organization for Standardization» (ISO) mit Sitz in Genf wird der Vorschlag an die 164 angeschlossenen Länder verteilt und von den jeweiligen Communities begutachtet. Die SNV versucht für die Schweiz nun herauszufinden, wer die Interessenten (Standard Maker) und wer die direkt/indirekt Betroffenen (Standard Taker) der neuen Norm sind. Dabei können Standard Maker auch Standard Taker sein. Die SASFS wirkt in diesem Fall als nationale Ansprechpartnerin für Normenbelange im Finanzbereich und wird durch die SNV zur Mitarbeit und Meinungsbildung eingeladen.


Wie erlebten sie die Normenarbeit im ­Finanzbereich in der Vergangenheit?
Eine prägende Erfahrung waren für mich die Ereignisse im Zusammenhang mit der Bankenregulierung. In diesem Prozess hätte man alle betroffenen Stakeholdergruppen intensiver in die Diskussion miteinbeziehen müssen. So ging wertvolles Wissen und die Unterstützung für den Normungsprozess verloren. Hier wurde eine Chance verpasst im offenen Selbstregulierungsprozess die Regeln für einen Konsens zu definieren, ohne das Bankengeschäft (allzu stark) zu behindern. Es fehlte eine Stakeholder-Map, in der festgehalten werden sollte, wer für eine neue Norm am Diskussionstisch sitzen soll, um einen breit abgestützten Konsens zu finden.

Die mangelnde Zusammenarbeit der grossen Standard Maker mit den Standard Takern und den übrigen Stakeholdern hatte zur Folge, dass die FINMA (Eidgenösische Finanzmarktaufsicht) geschaffen wurde. Mit diesem neuen Regulator wurden nun die Rahmenbedingungen viel restriktiver definiert, sodass die Durchsetzung von Kern­themen im Bankenbereich erschwert wurde.


Warum ist die Finanzindustrie nicht als ­Fachbereich strukturiert?
Die Fachbereichsstrukturen verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Neben der Finanzindustrie sind auch die grossen Branchen wie Chemie und Pharma keine Fachbereiche mehr. Die Normen sprengen heute in vielen Fällen die Fachbereichsstrukturen. Im Rahmen der Technologiekonvergenz decken sie themenübergreifende Aspekte ab.

Nehmen wir als Beispiel die Auto­branche: Früher hat man beim Öffnen der Motorhaube noch den Boden gesehen, ein bisschen Metall und ein bisschen Kabel, das war alles. Heute besteht ein Automotor aus vielen unterschiedlichen Materialen und Technologien, die nicht mehr markenspezifisch sind, wie IT, Kunststoffe, Metalle, Hightech Materialien, GPS, etc. Dazu kommen Querschnitt-Themen wie Smart City, Blockchain, Energie-Management-Systeme, Umwelt- und Risk-Managementsysteme, Quality Managementsysteme und Artificial Intelligence, um nur einige zu nennen.


Wie beurteilen sie die Zusammenarbeit der SNV mit der SASFS?
Wir schätzen die gute Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der SASFS im Themenbereich rund um das ISO/TC 68, deren Kommissionen und Arbeitsgruppen sehr.


Sie sind seit 20 Jahren bei der SNV, davon die letzten 3 Jahre als Geschäftsführer. Was ist Ihr persönliches Fazit und was hat sich verändert?
Wesentlich verändert hat sich der Einfluss der staatlichen Regulierer, die Schweiz ausgenommen. Insbesondere die Europäische Kommission nimmt heute viel mehr Einfluss auf das Normengeschäft und macht es sich dabei einfach, indem eine freiwillig und konsensorientiert erarbeitete Norm als verbindlich erklärt wird und diese dadurch zum Gesetz macht. Man sollte jedoch bedenken, dass es schwieriger ist ein Gesetz zu ändern, als eine Norm den neuen Anforderungen anzupassen. Dies ist vor allem im EU-Raum ein Problem, da der Gesetzgeber mit seinen vielen Funktionären zentralistisch organisiert ist, so dass sich grosse Firmen zunehmend von der Normenarbeit zurückziehen. Dies erschwert eine konsensorientierte und breit abgestützte Normung.

Die Normungsarbeit ist gefordert, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort die entsprechenden Experten zu versammeln, damit diese im Konsens und mit einer möglichst grossen Beteiligung die entsprechenden Normen verabschieden und proprietären Standards zuvorkommen. Auch die Informationsübermittlung hat sich durch die Digitalisierung stark verändert. 2001 wurden die neuen Normen noch per Postpaket auf Papier versandt. Ab 2002 per E-Mail-Attachment, als ZIP-File. Schnell gab es dann Probleme mit verseuchten Files. Aufgrund diverser Vorfälle durften keine ZIP-Files mehr versandt werden. Heute kommunizieren wir in den E-Committees (Informationsaustausch via Cloud-Lösung). Wichtig ist, dass die ISO/Normen-Community auf der gleichen Plattform arbeitet und so die Kommunikation vereinfacht.

«

DIE STANDARD MAKER ARBEITEN HEUTE WESENTLICH EFFIZIENTER ALS FRÜHER.

»

Die Expertentätigkeit hat sich ebenfalls verändert. Früher waren die Orte des ISO-Sitzungskalenders fast identisch mit dem Ferienkatalog eines Reisebüros, weltweite Sitzungen an den schönsten Badeorten der Welt. Das ist heute anders. Jüngere Experten tauschen sich mehr auf Web-Konferenzen aus, was recht gut funktioniert, jedoch das physische Meeting nicht in jedem Fall ersetzen kann. Und wenn man sich einmal persönlich trifft, dann geht es vor allem ums Normen-Business, meist ohne gesellschaftliches Rahmenprogramm.


Was wünschen Sie sich von der SASFS für die Zukunft?
Im Normenbereich gäbe es noch einige Themen (wie z.B. Nachhaltigkeit oder Risikomanagement), die für den Finanzbereich interessant sind und eine Mitarbeit der SASFS aus meiner Sicht wünschenswert wäre. Natürlich ist mir auch bewusst, dass das Ressourcenproblem für solche zusätzliche Aufgaben allgegenwärtig ist. Immer mehr Finanzinstitute haben ein geringeres Interesse, ihre Experten für die Normen-Arbeit zur Verfügung zu stellen. Diese Entwicklung ist aber auch in anderen Bereichen spürbar. Natürlich wünsche ich mir vom Schweizer Finanzbereich, dass dieser noch mehr Initiativen initiiert, mehr Einfluss auf die Normenarbeit nimmt und damit den Finanzplatz weiter stärkt.


Eine letzte Frage: Wie beeinflussen die Normen Ihr Alltagsleben?
Unbewusst sehr stark, bewusst höchstens wenn ich auf einer Baustelle eine Zementröhre sehe, schaue ich mal hin, ob diese auch einer anerkannten Norm entspricht. So auch beim Einkaufen von Konsumprodukten.


Herr Fischer, vielen Dank für Ihre interessanten Einblicke in das Normengeschäft der SNV und die gute Zusammenarbeit mit der SASFS .

Verwandte Artikel



Zum Newsletter anmelden